Liebe Nicola, wir freuen uns sehr, dass Du Anfang März auf Einladung von EINFACH ELTERN Dresden in die sächsische Landeshauptstadt kommst. Wir haben Dich zusammen mit Julia Dibbern bereits 2014 und 2016 auf dem Attachment Parenting Kongress in Hamburg gesehen und waren total begeistert von Eurer lockeren, anschaulichen und sehr persönlichen Vortragsweise und den inspirierenden Themen. Daher sind wir schon sehr gespannt auf Deine Lesung und Deinen Windelfrei-Workshop in Dresden.
EINFACH ELTERN Dresden:
Nun zu unseren Fragen an Dich: Wenn ich gefragt werde, was mein Herzensprojekt ist, sage ich, dass ich mich für eine bindungs- und bedürfnisorientierten Elternschaft engagiere. Oftmals blicke ich dann in fragende Augen. Meine nächste Antwort ist dann oft, dass ich mich für einen artgerechten Umgang mit Kindern einsetze. Dann schwankt der Gesichtsausdruck meines Gegenübers oft zwischen entsetzt und zweifelnd. Aber tatsächlich haben Julia Dibbern und Du den Begriff des artgerechten Lebens geprägt, nicht zuletzt durch die Gründung Eures artgerecht-Projekts. Was verstehst Du darunter und wie seid Ihr auf dieses Thema gekommen?
Nicola Schmidt:
Als mein Sohn geboren wurde, hatte ich keine Bücher gelesen außer Julias „Geborgene Babys“. Er kam drei Wochen zu früh – und ich hatte noch nicht mal Babyklamotten eingekauft. Im Geburtshaus haben sie ihm dann nach einer sehr schnellen, unkomplizierten Geburt die Kleider von der Vorführpuppe angezogen, damit ich ihn überhaupt mitnehmen konnte!
So starteten wir völlig blauäugig in das Eltern-Abenteuer und es zeigte sich, dass das Kind sich prima entwickelte. Nur um mich herum waren alle verstört und sagten, man bräuchte doch ein Babybett und einen Kinderwagen und einen Schnuller und und und.... Als ich mich dann schlau machte, wie „man“ es zu machen hat, bekam ich an jeder Ecke andere Antworten. Also habe ich mich gefragt: Alle reden von artgerecht gehaltenen Hühnern und artgerecht gefütterten Hunden. Was wäre denn – fern von allen Ideologien und Moden – artgerecht für Menschenbabys? Und dann habe ich mich auf die Suche gemacht.
EINFACH ELTERN Dresden:
Ihr werbt ja nicht nur für ein artgerechteres Leben von Babys und Kleinkindern. Nein, dieses Thema betrifft ja auch Kinder im Schulalter und auch Erwachsene. Wieso leben wir zu untypisch für unsere Art und was resultiert daraus für uns alle?
Nicola Schmidt:
Das ist eine sehr komplexe Frage. Meine Recherchen haben ergeben, dass wir hier über sehr lange Prozesse reden. Es hat wahrscheinlich mit dem Ackerbau und der neolitischen Revolution begonnen. Am Ende steht eine Zivilisation, in der wir nicht mehr artgerecht leben. Wir können viele unserer arttypischen Verhaltensweisen nicht ausleben. Viele Menschen haben zu wenig soziale Kontakte, zu wenig Zeit für Muße, bekommen zu wenig frische Luft und Sonnenlicht oder zu wenig Schlaf.
Und wie Tiere im Zoo werden wir von nicht-artgerechtem Leben krank. Das ist auch das Kriterium für alles, was das artgerecht-Projekt untersucht: Macht uns dieses Verhalten gesund oder krank? Macht es unsere Kinder gesund oder krank?
Aber wer will auf das Internet und seine Waschmaschine verzichten? Ich nicht! Also stelle ich auch die Frage, wie wir das, was wir brauchen, in unsere Welt einbauen können. Denn die Zivilisation hat viele, viele Vorteile mit sich gebracht. Wir müssen eigentlich nur noch mit den Nachteilen achtsamer umgehen.
Das Schöne daran ist: Was gut ist für den Homo sapiens ist in der Regel auch gut für unseren Heimatplaneten. Deshalb heißt es auch auf unseren T-Shirts: Happy Familys – Happy Planet.
EINFACH ELTERN Dresden:
Dein Baby-Buch, aus dem Du in Dresden u. a. lesen wirst, hat den Untertitel “Das andere Baby-Buch”. Was ist so anders an deinem Buch?
Nicola Schmidt:
Wenn ich mit Profis rede, höre ich oft: „Naja, Nicola, so deutlich darf man das den Eltern nicht sagen, damit sind die überfordert“ oder „Nicola, das sollten Eltern gar nicht wissen, sonst wird alles zu kompliziert.“
Das sehe ich anders. Ich finde schon, dass Eltern ein Recht auf Information haben. Ich hätte vieles sehr gerne vorher gewusst! Das Artgerecht Babybuch ist daher ein Buch für Eltern, die es wissen wollen. Die alles ganz genau wissen wollen, um dann ihre eigene Entscheidung treffen zu können. Ich sage niemandem, wie es zu machen ist. Ich schreibe ausschließlich, was nachweislich gut für die mentale und körperliche Gesundheit unserer Kinder ist – und dann entscheiden die Eltern.
EINFACH ELTERN Dresden:
Neben dem Schreiben von Büchern gibst du auch Windelfrei-Workshops und bildest Windelfrei-Coaches aus. Auf die Tatsache, dass Babys (fast) windelfrei leben können, ernte ich oft die gleichen Reaktionen wie auf meine Antwort zur artgerechten Lebensweise. Was verstehst Du unter windelfrei und wie kann es funktionieren?
Nicola Schmidt:
Windelfrei heißt eigentlich: Ich sehe, wann mein Baby Hunger hat und ich sehe, wann es mal muss. Das kann sehr viele Missverständnisse zwischen Eltern und Kindern vermeiden. Der Klassiker ist doch: Das Baby stillt und dockt an der Brust ständig an und ab. Eltern verzweifeln oft daran, warum stillt es denn nicht? Die Antwort: Das ist ein Zeichen für eine volle Blase. Wenn man das Kind abhält, stillt es ruhig weiter.
Meine Arbeit zielt darauf, diese Art von Missverständnissen zu reduzieren und so den Alltag mit dem Baby einfacher zu machen. So lernen Eltern, ihre Babys plötzlich viel besser zu verstehen. Und wer öfter abhalten möchte – bitteschön! Vielen macht es soviel Spaß, dass sie dann bald nur noch wenige Windeln brauchen. Und das ist gut gegen Wundsein, gut fürs Sauberwerden und gut für die Umwelt.
EINFACH ELTERN Dresden:
In Eurem neuesten Buch “Slow family” beschäftigt Ihr Euch mit den Vorteilen eines gelassenen, naturverbundenen und nachhaltigen Familienleben. Ich bin fast durch mit dem Buch und finde es sehr inspirierend. Was ist Euer großes Ziel hinter all Euren Projekten und Engagements?
Nicola Schmidt:
Wir wollen den Planeten retten. Im Ernst. Julia und ich glauben daran, dass wir eine neue Generation Menschen brauchen, die achtsam mit Ressourcen umgeht. Wir haben so viele Menschen, die nach einer traumatischen Kindheit sagen: „Blauwale? Ist doch nicht mein Problem!“ Aber wenn es den Blauwalen schlecht geht, geht es allen schlecht. Alles ist eins. Es ist klar, dass wir das Ruder herumreißen müssen. Deshalb versuchen wir, möglichst vielen Menschen zu zeigen, wie man empathische Menschen erzieht – von Anfang an. Denn diese Menschen werden wir brauchen.
EINFACH ELTERN Dresden:
Was muss Eurer Auffassung nach passieren, damit wir diesem Ziel näher kommen?
Nicola Schmidt:
Wir haben 2017 das 2-Grad-Ziel verpasst, die Erde wird 2 Grad wärmer werden. Das kling wenig, aber wer „This changes everything“ liest, weiß, dass das viel ist. Unsere Kinder werden sehr viel Empathie und Phantasie brauchen, um diesen Planeten weiter bewohnen zu können. Wir möchten dabei helfen, ihren Rucksack dafür mit Liebe, Kraft und Mut zu füllen. Die Früchte dieser Arbeit wird man erst sehen, wenn ich schon lange wieder zu Erde geworden bin. Aber ich glaube fest daran, dass es sie geben wird.
EINFACH ELTERN Dresden:
Vielen lieben Dank, dass Du Dir Zeit für unsere Fragen genommen hast. Wir sehen uns bald in Dresden!
Katja Schill
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